Kommentar / Rezension / Kolumne

Das Archiv der Träume – Warum bleibst Du in einer toxischen Beziehung?

Wieso sprechen wir kaum über häusliche Gewalt in lesbischen Beziehungen? Hat die Gesellschaft ein Problem damit, sich vorzustellen, dass Frauen toxisch und gewalttätig sein können? Oder kommt es einfach so selten vor, dass es nicht der Rede wert ist?

Carmen Maria Machado, US-amerikanische Autorin mit kubanischen Wurzeln, war in einer von Manipulation, Gewalt und Tränen geprägten Beziehung gefangen und setzt sich in ihrem stark biografisch gefärbten Roman Das Archiv der Träume (amerikanischer Titel: In The Dream House) damit auseinander. Der Erfolg ihres Buches zeigt, wie groß das Interesse am Thema und der aufgestaute Leidensdruck dahinter offenbar sind.

Carmen Maria Machado – Copyright Art Streiber August

Geistreich, bohrend, wichtig

Machado schafft es, tief persönliche Momente zu einer meisterhaften Collage zu vereinen. Sie schreibt in der Du-Form an ihr früheres Ich. Jenes Ich, das in einer toxischen Beziehung mit einer zerstörerischen Frau lebte. Im Buch nennt Machado sie nur „die Frau aus dem Traumhaus“. Häuser, Orte, räumliche Begrenzungen sind starke, wiederkehrende Motive, die auch verdeutlichen, wie eingekerkert sie sich selbst fühlte, obwohl sie die Frau aus dem Traumhaus jederzeit hätte verlassen können.

Das Archiv der Träume

Das liest sich wie der Brief einer großen Schwester, die weiß, dass ihrer kleinen Schwester sämtliche schreckliche Erfahrungen bevorstehen, die einer queeren Frau im Verlauf ihres Lebens zustoßen können.

Jedes Wort ist scharf durchdacht, beabsichtigt, klug platziert. Gleichzeitig fühlt man zwischen den Zeilen die Unsicherheit, die Labilität und das fragile Selbstwertgefühl des früheren Ichs. Für ihr Schreibhandwerk hat Machado zu Recht viele Preise abgeräumt.

Die Handlung wird immer wieder unterbrochen von Bezügen zur Gegenwart. Außerdem bringt die Autorin unzählige Verweise auf Essays, Literatur, Filme und Aufzeichnungen zu realen Kriminalfällen ein. So hat Machado ihr eigenes Archiv aus Biografischem, Künstlerischem und Informativem zusammengesetzt. Manchmal geht sie direkt unter die Haut, manchmal nimmt sie Abstand von sich selbst und schreibt über das Thema häusliche Gewalt in lesbischen Beziehungen aus einer intellektuellen Perspektive.

Dieses Wechselbad wirkt erfrischend, denn 330 Seiten Zeter und Mordio würden der geneigten Leserin doch etwas zu viel abverlangen. Wenn man Das Archiv der Träume zuklappt, fühlt man sich nicht nur gefühlsmäßig durchgerüttelt, sondern auch noch gut aufgeklärt.

Was hat eine toxische Beziehung mit Lesbischsein zu tun?

Das Buch setzt sich mit vielen Fragen auseinander, die häusliche Gewalt im Spannungsfeld des Lesbischseins beleuchten.

Jeder kann sich einen Mann vorstellen, der seine Freundin misshandelt. Der Begriff toxische Männlichkeit gewinnt zunehmend an Popularität, sexuelle Gewalt (von Männern) gegen Frauen wird immer weniger tabuisiert. Sogar für eine Frau, die ihren Partner schlägt oder psychisch erniedrigt, reicht die Fantasie noch aus. Aber Lesben, die sich gegenseitig so etwas antun? Gibt‘s das? Und wenn ja, sind die Täterinnen dabei immer die Butches, weil die sowieso zu viel Maskulinität geschluckt haben?

Machado beschreibt in Das Archiv der Träume, sie habe lange gebraucht, sich die Klemme, in der sie steckte, selbst einzugestehen.

Ich wollte nicht, dass meine Freundin […] Aggressionsprobleme hatte. Sie sollte sich nicht so penetrant unlogisch verhalten. Sie sollte nicht eifersüchtig oder grausam sein. Wenn ich ihr heute eins sagen könnte, dann wäre es: „Meine Fresse, rück uns doch nicht in so ein schlechtes Licht.“

Carmen Maria Machado, Das Archiv der Träume, Seite 174/175

Queere Gewalt habe immer etwas Homophobes an sich, schreibt sie. So wie Gewalt in heterosexuellen Beziehungen immer etwas Sexistisches habe. (s. Seite 312).

Dieselben üblichen Fragen

Eines haben Überlebende aus hetero- und homosexueller häuslicher Gewalt gemeinsam: Sie werden mit denselben Fragen konfrontiert, die von innen, aus dem eigenen Umfeld oder sogar von Fremden auf sie zukommen.

Wieso bist Du nicht gegangen? Warum hast Du nie etwas gesagt? Findest Du nicht, dass Du überreagierst? Kannst Du es beweisen? War es nicht auch Deine Schuld?

Manche dieser Fragen lassen sich nie eindeutig – möglicherweise sogar überhaupt nicht – beantworten.

Carmen Maria Machado wagt den Versuch, ihre eigenen Antworten zu finden und sie für die Leser*innen nachvollziehbar, mitfühlbar und eindringlich zu machen. Das Archiv der Träume basiert auf ihren persönlichen Erfahrungen und wird als „Roman“ beworben, aber wir finden, es ist unheimlich viel mehr als das. Es ist eine vielschichtige Aufarbeitung, die sich bis zum Bodensatz der Geschichte gräbt, eine literarische Schmetterlingssammlung, ein Schlag auf das bereits blaue Auge, kurz: ein Buch, das sich definitiv lohnt.

Wir danken dem Verlag Klett-Cotta für das Rezensionsexeplar. Daran war nicht die Bedingung einer positiven Besprechung gebunden.

Du befindest Dich selbst in einer toxischen Beziehung? Hol Dir Hilfe:

Deutschland

  • Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen: 08000 – 116 016
  • Website: www.hilfetelefon.de

Schweiz

  • Frauen-Nottelefon Zürich: 052 – 213 61 61
  • Webseite: www.frauennottelefon.ch

Österreich

  • Frauenhelpline gegen Gewalt: 0800 – 222 555
  • Webseite: www.frauenhelpline.at

Anmerkung der Redaktion: Es gibt einen Artikel aus Sicht einer Täterin.



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