Coming-Out

Verstossen, Verlassen, Alleine – Wie weiter?

 

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Allein in Deutschland stecken etwa 48.000 Mädchen und Jungen in Schwierigkeiten. Weil sie sich vor ihren Familien geoutet und damit eine Lawine losgetreten haben, die sie zu erdrücken droht. Schnelle Hilfe ist gefragt, doch wie kann diese aussehen? Eine Situationsanalyse. 

Das Coming-Out vor den Eltern ist oft das Schwierigste, sagt man. Über Wochen, Monate, manchmal sogar über Jahre hinweg macht man sich ohne Unterlass Gedanken über das Wie, das Wann, das Wo. Spielt im Kopf die verschiedensten Situationen durch und wartet auf einen richtigen Augenblick, den es nicht gibt. In vielen Fällen stellt sich heraus, dass es schlichtweg unnötig war, sich dermaßen fertig zu machen. Weil die Eltern gut reagieren, besser als man es sich hätte träumen lassen. Doch was, wenn genau das Gegenteil eintritt? Wenn deine Eltern plötzlich nicht mehr deine Eltern sind?

 

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Verstoßen – und dann?   

Deutschland. Statistiken zufolge leben allein hier etwa 1,2 Millionen (Quelle:  www.coming-out-day.de, Stand: 25.09.14) lesbischwule  Jugendliche. Das ist gar nicht mal so wenig, zumal die anzunehmende Dunkelziffer deutlich höher anzusiedelnde Zahlen zulässt. So weit, so gut. Eine Zahl, die mich um einiges mehr aufwühlt, ist die vier. Circa vier Prozent* der homosexuellen Jugendlichen werden von ihren Familien verstoßen, ergo auf die Straße gesetzt! Vier Prozent. Auf den ersten Blick könnte man glauben, das wäre nicht viel. Um aber den Statistiken mit ihrem angenommenen Wert von 1,2 Millionen zu folgen, wären das immerhin 48.000 Mädchen und Jungen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung all das verlieren, was gerade im Leben Heranwachsender und junger Erwachsener von so großer Bedeutung ist: die Familie, die Liebe ihrer Eltern und das Zuhause als Zufluchtsort.

„Ich habe keine Tochter mehr!“, waren die letzten Worte, die Lena, über deren Schicksal bereits an früherer Stelle berichtet wurde, von ihrer Mutter zu hören bekam. Eine Welt brach für sie zusammen und wer weiß, wo sie ohne die tatkräftige Unterstützung ihrer Freunde, die ihr dabei halfen, ihre Welt wieder in Ordnung zu bringen, jetzt stünde. Vielleicht ginge es ihr genauso wie zahlreichen anderen verstoßenen Jugendlichen, die, ohne ein Dach über dem Kopf zu haben, auf der Straße landen, zu Alkohol und Drogen greifen oder sich sogar prostituieren um zu überleben. Zwar gibt es laut www.coming-out-day.de bis jetzt keinerlei Studien über den Zusammenhang zwischen Homosexualität und auf der Straße lebenden Jugendlichen. Man geht an dieser Stelle aber davon aus, dass der erhöhte Anteil an Rauswürfen lesbischwuler Heranwachsender einen ansteigenden Prozentsatz auf der Straße lebender lesbischer und schwuler Jugendlicher zur Folge hat. Heißt: wird man von seinen Eltern auf die Straße gesetzt, stehen die Chancen gut, dort auch zu bleiben. Daher gilt: werden lesbischwule Jugendliche von der Familie verstoßen und zu Hause rausgeworfen, ist schnelle und vor allem nachhaltige Hilfe gefragt! Leider sind solche Hilfsangebote in Deutschland rar gesät und auf einzelne Regionen, vornehmlich Großstädte, beschränkt. Meiner Meinung nach fehlt es an Hilfsprogrammen, die sich die Hilfe verstoßener Jugendlicher auf überregionaler und nationaler Ebene auf die Fahne schreiben.

 

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Französische Vorbilder   

Bestes Beispiel für eine solche national agierende Organisation ist das französische „Le Refuge“, zu Deutsch „Die Zuflucht“. Der 2003 gegründete Verein setzt sich unter anderem für junge Homosexuelle zwischen 16 und 25 Jahren ein, die von der Familie verstoßen worden, Diskriminierung und Gewalt im nächsten Umfeld erfahren haben und mitunter suizidgefährdet sind. Über das gesamte Land verteilt betreibt „Le Refuge“ fünf Einrichtungen (in Paris, Lyon, Marseille, Toulouse und Montpellier), in denen neben professioneller Beratung, psychologischer Betreuung und tatkräftiger Unterstützung auch Wohnheimplätze zur Verfügung gestellt werden. Dort können die betroffenen und ins Programm aufgenommenen Jugendlichen bis zu sechs Monate verweilen, zur Ruhe kommen, ins Leben zurückfinden und mit Hilfe der Mitarbeiter des Vereins ihre Zukunft neu planen. Den jungen Leuten, die Beschimpfungen, Gewalt, Diskriminierung und Gewalt erfahren haben, wird im Rahmen des Programms von „Le Refuge“ geholfen, wieder auf die Beine zu kommen um ein geordnetes, neues und vor allem glückliches Leben beginnen zu können. Leider steht für das Programm nur eine begrenzte Anzahl an Plätzen zur Verfügung, die Warteliste ist lang. Auf ihr stehen die Namen von Menschen wie du und ich. Die Namen junger französischer Frauen und Männer, die Hoffnungen haben und Träume. Für die es unmöglich geworden ist, länger zu Hause wohnen zu bleiben, die bedingt durch ihr Coming-Out traumatische Erfahrungen gemacht und Gewalt erlebt haben, die teilweise längst als Obdachlose auf der Straße leben. Jedes einzelne Schicksal ein Skandal.

Schnelle Hilfe? Pustekuchen! 

Eben solche Schicksale gibt es auch in Deutschland, der Schweiz und Österreich zuhauf. Doch zum Beispiel in Deutschland lässt das Hilfsangebot sehr zu wünschen übrig. Wenn ich nur einmal zur Demonstration „homosexuelle Jugendliche verstoßen Hilfe“ google, dann führt mich das unter anderem zu einem Artikel von Spiegel-Online, zum Familienhandbuch und sogar zu einem Bericht über die Situation malaiischer Homosexueller. Großartig! Genau das, was man als Jugendliche in einer Grenzsituation wie dem Ausschluss von zu Hause NICHT braucht. Für viele ist das Internet und allen voran Google doch der erste Anlaufpunkt, wenn Probleme auftauchen! Dementsprechend schnell sollte man eigentlich Lösungen für sein Problem finden. Dementsprechend sollte ich NICHT geschlagene zehn Minuten brauchen, um endlich auf eine Linkliste mit Hilfsangeboten zu stoßen. Jackpot. Hilfestellen in Berlin, Hamburg, Köln, München und sogar in Braunschweig. Nicht hilfreich für Jugendliche in Schwierigkeiten, die wie ich aus einem kleinen Provinzkaff am Arsch der Welt stammen. Hilfsprojekte in Großstädten schön und gut, aber was ist mit den ländlichen Gegenden?

Deutschland, hilf!

Worauf ich hinaus will: Deutschland, hilf! Und zwar nicht nur auf so oberflächliche Art und Weise, wie du es jetzt tust! Vier Prozent deiner lesbischschwulen Jugendlichen stecken aufgrund ihrer Sexualität in Schwierigkeiten! Mindestens 48.000 Mädchen und Jungen werden von ihrem Zuhause verstossen und sehen sich einem Scherbenhaufen gegenüber, der einmal ihre Familie, ihr Leben war! Überregionale Hilfsangebote müssen her, Prävention und nachhaltige Hilfe sind gefragt! Warum nicht ein deutsches Pendant zum französischen „Le Refuge“ ins Leben rufen? Warum Stangen an Geld in sinnlose Flughafenprojekte stecken, wenn es doch im Menschen und in der Menschlichkeit viel besser angelegt wäre? „Es sind nur 48.000“, wirst du vielleicht versuchen, mir die Luft aus den Segeln zu nehmen. Ich werde sagen: „Es sind 48.000 zu viel!“ Denn wenn auch nur ein LGBT-Jugendlicher in einem Land wie Deutschland wegen seiner Sexualität leiden muss, dann ist das noch immer einer zu viel.

 

 



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