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Carolin Emcke: Wie wir begehren

Carolin Emcke ist eine preisgekrönte Kriegsreporterin. Sie berichtete im Auftrag des Spiegels schon von Schauplätzen wie Afghanistan, Pakistan, Kosovo, oder dem Irak. Von Orten also, wo Gewalt, Tod, Verderben, Verzweiflung und Wut herrschten – oder noch immer den Alltag der dort ansässigen Menschen prägen. Nun hat sie ein hoch gelobtes Essay verfasst. Es handelt von ihrer sexuellen Selbstfindung.

Krieg und sexuelle Selbstfindung: wie passt das zusammen?

Carolin Emcke hat bereits einige Bücher publiziert, die ihre Tätigkeit als Kriegsreporterin thematisieren. Sie hat viel gesehen an den verschiedenen Orten, von wo sie berichtet hat. Viel Schlimmes, viel Elend, viel Entsetzen. Was ihr aber am meisten imponierte, und sich durch all ihre Werke wie ein roter Faden zieht, ist die immer wieder beobachtete Sprachlosigkeit. Sprachlosigkeit, die aus Gewalt und Traumatisierung entsteht. Emcke versucht, diese Stille zu überwinden, indem sie Menschen, die verstummt sind, wieder eine Stimme gibt, auf deren Schicksal aufmerksam macht – auch wenn die Welt längst nicht mehr hinschaut. Das geschriebene Wort bietet aber auch der Autorin selbst erst die Möglichkeit, mit dem Erlebten umzugehen, ihre Erfahrungen aufzuarbeiten, und ihre eigene Sprachlosigkeit über das Gesehene zu überwinden.

Sprachlosigkeit erlebte und verspürte sie aber nicht nur an diesen zahllosen Kriegsschauplätzen, sondern, und sogar in weit grösserem Masse, auch gegenüber sich selbst: als sie nämlich ihr eigenes Begehren entdeckte. Plötzlich waren da Gefühle wie Lust, sexuelles Verlangen. Mit 25 Jahren. Und gegenüber einer Frau.

„Wie wir begehren“

Das Essay „Wie wir begehren“ handelt einerseits vom im Titel enthaltenen „Wir“, von uns Homosexuellen. Sie thematisiert zum Beispiel die Unterdrückung, der wir früher, manchmal auch heute, ausgesetzt waren (sind), oder die noch immer vorherrschenden Unterschiede zwischen der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Schwulen und Lesben: Während „Schwul-Sein“ beinahe wie eine Seuche gefürchtet wurde – und mancherorts noch immer gefürchtet wird – hat die Vorstellung von Frauen liebenden Frauen kaum einmal Angst ausgelöst. Die Autorin begründet dies damit, dass bei Schwulen Sex (und damit verbunden auch eine gewisse Macht) eine grosse Rolle spielt, während Lesben häufig Unlust attestiert wird. Wenn, dann wollen wir ja höchstens kuscheln.

In Zusammenhang mit dem Begehren mag Emcke aber nicht mehr vom „Wir“ sprechen. Denn: Kann das Label „Lesbe“ oder „Homosexuelle“ erklären, wie wir begehren? In den Augen der Autorin nicht. „Begehren“ ist eine Handlung, lebendig, dynamisch, wandelbar. Der Begriff „Lesbe“ hingegen steht für eine Identität, für Frauen liebende Frauen – die aber abgesehen davon, dass sie die gleiche sexuelle Orientierung haben, eigentlich ganz verschieden sind. Natürlich hat diese uns gemeinsame Identität, das „Wir“, das „Lesbisch-Sein“ auch durchwegs positive Aspekte: Unter anderem haben wir es ihr zu verdanken, dass wir kollektiv sichtbar geworden sind, die Gesellschaft uns wahrnimmt und wir uns Rechte erkämpfen konnten, von denen wir vor 40 Jahren nicht zu träumen gewagt hätten. Andererseits presst dieses „Wir“ uns aber auch in eine Schublade und ist Grundlage vieler Klischees. Wie wir begehren ist aber alles andere als generalisierbar, sondern, ganz im Gegenteil, privat und intim. Und deshalb erzählt uns Carolin Emcke ihre ganz persönliche Geschichte, von ihren ganz persönlichen Erfahrungen, von Begegnungen mit Menschen, die sie noch heute in ihrem Herzen trägt, von Verlusten, die sie erst heute versteht – in wunderschönen und auch zum Nachdenken anregenden Anekdoten aus der Vergangenheit. Sie öffnet sich uns auf wunderbare Weise, offenbart ihre Gefühle, Ängste, Wünsche und Sehnsüchte. Als Mensch, als Individuum. Dabei hält sie fest: „Ich begehre Frauen. Subjekt, Prädikat, Objekt.“ Und überwindet auf diese Weise ihre ganz eigene Sprachlosigkeit.



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